Der Zimmermann, der seine eigene Zukunft zimmert

📖 mittellang | 🌱 Einfach zu verstehen | 🧒 für Kinder geeignet

In einer kleinen Stadt lebt ein wohlhabender Mann, der sein Vermögen durch jahrelange ehrliche Arbeit erwirtschaftet hat. Als er älter wird, verspürt er den Wunsch, etwas von seinem Glück zu teilen.

Nach langem Nachdenken führt ihn sein Weg zu einem Zimmermann - einem Mann, dessen Ruf in der Stadt legendär ist. Seine Arbeiten sind zwar nicht die günstigsten, aber jeder weiß: Was seine geschickten Hände erschaffen, hält ein Leben lang. Trotz seines Könnens hat der Zimmermann kaum genug, um seine fünf Kinder satt zu bekommen. Doch er arbeitet jeden Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, und nie hat ihn jemand über sein bescheidenes Los klagen hören.

Eines Morgens besucht der reiche Mann die bescheidene Werkstatt des Zimmermanns. „Ich habe einen besonderen Auftrag für dich. Baue ein Haus - aber nicht irgendein Haus. Es soll ein Ort sein, an dem sich jemand wirklich zu Hause fühlen kann. Spare nicht an Material, wähle nur die besten Handwerker. Das Haus ist für eine ganz besondere Person bestimmt."

Der Zimmermann hört aufmerksam zu. Seine Augen leuchten bei diesem außergewöhnlichen Auftrag. Endlich eine Gelegenheit, sein wahres Können unter Beweis zu stellen!

„Hier ist mehr als genug Geld", fährt der reiche Mann fort und überreicht ihm einen prall gefüllten Beutel. „Ich muss für einige Monate verreisen. Bei meiner Rückkehr soll das Haus fertig sein - es wird ein Geschenk sein und ich möchte einen Menschen sehr glücklich machen."

Der Zimmermann macht sich mit vollem Elan an die Arbeit. Das Fundament wird so solide gegossen, dass es Jahrhunderte überdauern könnte. Die Mauern wachsen Tag für Tag, jeder Stein wird mit höchster Sorgfalt gesetzt. Sein Handwerkerstolz treibt ihn zu Höchstleistungen.

Als die Dachbalken geliefert werden sollen, macht der Händler ihm ein Angebot. „Ich hätte da Eichenholz, erstklassige Qualität", sagt er und zeigt auf einen Stapel perfekt aussehender Balken. „Kostet aber seinen Preis." Dann deutet er auf einen anderen Stapel: „Das hier ist auch Eiche, vom gleichen Wald sogar. Hat nur ein paar kleine Makel - dafür kostet es die Hälfte."

Der Zimmermann zögert. Die Balken sehen wirklich ganz genauso aus. Er denkt an seine Kinder, die sich seit Monaten neue Schuhe wünschen. An seine älteste Tochter, die bald heiraten will und keine Aussteuer hat. An seine Frau, deren einziges Kleid so oft geflickt wurde, dass kaum noch der ursprüngliche Stoff zu sehen ist. Mit der gesparten Summe könnte er...

„Die Makel sind kaum zu sehen", redet der Händler weiter. „Und wenn man sie richtig verbaut, halten diese Balken genauso lange."

Der Zimmermann trifft seine Entscheidung. „Ich nehme die günstigeren", sagt er und spürt dabei ein leichtes Ziehen im Magen. Zum ersten Mal in seinem Leben bricht er seinen eigenen Ehrenkodex.

Am Abend trägt er mit zitternder Hand den vollen Preis für erstklassige Balken in seine Abrechnung ein. „Der Besitzer wird den Unterschied nie bemerken", redet er sich ein. „Und das Haus wird trotzdem halten." Doch in dieser Nacht schläft er nur sehr schlecht.

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Das ist seine erste bewusste Täuschung - aber nicht seine letzte. Von jetzt an wird es immer leichter, kleine Abstriche zu machen und die Differenz einzustreichen. Und mit jedem Betrug verliert er ein Stück seiner Würde.

Sechs Monate später ist der reiche Mann zurück.

Bei der Übergabe präsentiert der Zimmermann stolz sein Werk. „Hier ist der Schlüssel", verkündet er mit gespielter Zuversicht. „Alles wurde genau nach Ihren Wünschen ausgeführt."

Der reiche Mann betrachtet ihn lange. „Weißt du", sagt er schließlich, „ich war früher selbst ein Zimmermann. Ich kenne jeden Handgriff, jeden Trick..."

Er macht eine Pause.

Der Zimmermann spürt, wie ihm der Schweiß ausbricht. In diesem Moment wird ihm die volle Bedeutung seiner Entscheidungen bewusst. Sein ganzer Stolz, sein Lebenswerk - alles hat er für ein paar Münzen verkauft.

„Dieses Haus", fährt der reiche Mann fort, „sollte ein ganz besonderes Geschenk sein." Er holt tief Luft. „Ein Geschenk für einen Menschen, der es durch seine Ehrlichkeit und seinen Fleiß verdient hat. Ich wollte diesen Menschen glücklich machen."

Seine Augen ruhen auf dem Zimmermann.

„Das Haus ist für dich und deine Familie."

Der Zimmermann erstarrt. Mit einem Mal sieht er sein Werk mit anderen Augen: die versteckten Mängel, die schlechte Arbeit, die billigen Materialien - all das wird nun sein eigenes Zuhause sein. Die Münzen in seiner Tasche werden schwer wie Blei. Er hat nicht nur den reichen Mann betrogen, sondern vor allem sich selbst.

Seine Kinder werden in einem Haus aufwachsen, das von des Vaters gebrochenem Versprechen erzählt.

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